Uns alle ist bewusst geworden, dass die sexuelle Revolution nicht gehalten hat, was sie versprochen hatte, und dass wir noch verwirrter, bestürzter und unglücklicher als früher sind. Dazu kommt auch noch, dass mit Sex in Zusammenhang stehende Krankheiten zu einer erschreckenden, weltweiten Epidemie geworden sind. Vor allem AIDS, die tödliche Krankheit, für die bislang noch keine Heilungsmöglichkeit entwickelt wurde, zwang die Menschen zu einer neuen Wertung ihrer sexuellen Gewohnheiten und zu der Frage, ob es nicht bessere, gesündere und befriedigendere Möglichkeiten der zwischenmenschlichen Beziehung geben könnte als den sexuellen Kontakt.
Man muss wohl kaum erwähnen, dass sexuell enthaltsam lebende Menschen dieser Krankheit nicht erliegen. Sie bekommen auch keinen Herpes, eine andere unheilbare, durch sexuellen Kontakt übertragene Krankheit. Und enthaltsame Frauen leiden nie unter Gebärmutterhalskrebs. Darüberhinaus sind Stressanfälligkeit und Blutdruckwerte bei diesen Menschen niedriger, und das Auftreten von Herzerkrankungen und Krebs ist deutlich vermindert. Insgesamt führen sexuell enthaltsame Menschen ein gesünderes Leben als Menschen mit wechselnden Sexualpartnern. Sie rauchen und trinken weniger, sind häufig Vegetarier und sind beträchtlich weniger suchtgefährdet.
Das größte Plus jedoch, das die Enthaltsamen für sich verbuchen können, ist, dass sie für gewöhnlich ihre Beziehungen zu anderen Menschen positiv verändert finden. Da sie sich nicht geschlechtsbetont verhalten, neigen sie zu einer Sichtweise, die andere als Individuen akzeptiert, nicht nur als Körper, die, geordnet nach attraktiv und nicht attraktiv, entweder akzeptiert oder zurückgewiesen werden. Gleichzeitig leiden enthaltsame Menschen nicht in solch hohem Ausmaß unter den negativen Gefühlen, die mit einem aktiven Sexualleben verknüpft sind, so beispielsweise Gier, Eifersucht, Verlangen, Besitzstreben, Abhängigkeit  und Zorn.
Sexuelle Enthaltsamkeit befreit Männer und Frauen aus ihrer Abhängigkeit und ihrem übersteigerten Vertrauen auf den anderen und befähigt sie zur Freundschaft statt zur Feindschaft. Schon George Bernhard Shaw beobachtete vor nahezu hundert Jahren, dass der ärgste Hemmschuh für die weibliche Emanzipation das sexuelle Verlangen war - sowohl männliches als weibliches. Diesen Hinweis haben wir immer noch nicht beherzigt, und zahlreiche Feministinnen glauben bis heute, dass mehr und besserer Sex ein Weg zur Befreiung sei.
Viele Menschen schrecken gar vor dem Gedanken an Enthaltsamkeit zurück, da sie diese Art zu leben für unmöglich erachten. Die meisten jedoch, die aufgrund einer Glaubensforderung sexuell enthaltsam leben, betonen, dass Keuschheit tatsächlich die am leichtesten zu befolgende Regel sei. Und auch die "weltliche Keuschen" fanden es überhaupt kein Problem, Sex aufzugeben. Unglücklicherweise sind wir an einen Punkt gelangt, zügellosen und häufigen Sex als die Norm anzusehen, wohingegen in Wirklichkeit eine bejahte Hinwendung zur Keuschheit gleichwohl Körper und Seele befreit.
Wenn ich von bejahter Enthaltsamkeit spreche, so meine ich damit keine rigorose Unterdrückung oder Sublimierung sexueller Begierde, und es ist auch nicht notwendig, auf eine Therapie aus kalten Duschen und puritanischen Methoden zurückzugreifen. Wenn jemand ständig an Sex denkt und sich dann selbst verleugnen muss, hat Keuschheit keinen Wert. Ein Nutzen wird erst dann entstehen, wenn keine Lust auf Sex mehr vorhanden ist.
Das Bedürfnis nach Sex lässt dann nach, wenn sich Verständnis dafür einstellt, was es mit dem Sexualtrieb, der Unbefriedigtheit und sexueller Erfüllung auf sich hat. Wir haben Angst davor, die Finger vom Sex zu lassen, weil wir nicht wirklich verstehen, was Sex eigentlich ist. Wenn wir einmal soweit sind, kann seine Einflussnahme auf unser Leben verringert werden.
Ich postuliere selbstverständlich nicht, dass von nun an jeder Mensch auf der ganzen Welt für immer in Keuschheit leben müsse. Das wäre sowohl unmöglich als auch unrealistisch. Was ich meine, ist, dass die meisten von uns überhaupt nie den Gedanken in Erwägung gezogen haben, Enthaltsamkeit als eine Weg der Bindung mit anderen Menschen zu leben. Die Zeit ist reif zu erkenne, dass es noch eine Alternative gibt; eine nichtsexuelle.
Der herrschende Mythos proklamierte ein aktives und abwechslungsreiches Sexualleben als die einzig richtige Art der Lebensgestaltung. Wir haben bis heute nicht eingesehen, dass einiges für die Alternative dazu, die Keuschheit, sprechen kann. Aber sie kann sich eben nur dann positiv entfalten, wenn man nicht das Gefühl hat, etwas aufgeben zu müssen. Nur wenn jemand die absoluten Vorzüge der Enthaltsamkeit wirklich erkennt, kann er auf Sex verzichten. Ich bin davon überzeugt, dass Keuschheit sicher nicht als Verpflichtung für immer und ewig, sondern als eine alternative Lebensform für bestimmte kritische Zeitabschnitte im Leben eines Menschen weit mehr Vorteil bringt als die verzweifelte Suche nach immer größeren und besseren Orgasmen.
Da wir nicht unbedingt sexuell aktiv sein müssen, müssen wir natürlich auch nicht keusch sein, wenn wir es nicht wollen. Alles was Ich eigentlich sagen will ist: Ziehen wir es doch einfach einmal in Betracht! Weil Sex ja nun offensichtlich keine Zauberkraft besitzt und auch keine dauerhafte Zufriedenheit gebracht hat, wäre es doch vielleicht an der Zeit, über andere, möglicherweise lohnendere Arten nachzudenken, wie wir unser Leben gestalten können.

Häufig wird in unserer Zeit Sex mit Liebe identifiziert. Liebe jedoch findet zwischen gleichgestellten Individuen statt, die sich gegenseitig respektieren und sich nicht, wie beim Geschlechtsakt häufig der Fall, erniedrigen oder besitzen wollen.

Text entnommen aus:
Sex ist nicht das Wichtigste
Liz Hodgkinson
1987 Droemersche Verlagsanstalt TH. Knaur Nachf., München

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